Dienstag, 29. September 2009

ansichten zur nächstenliebe

„Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu fünfen miteinander seid, muss immer ein sechster sterben. Meine Brüder, zur Nächstenliebe rate ich euch nicht: ich rate euch zur Fernsten-Liebe.“

„Warum sollen wir das? Was soll es uns helfen? Meine Liebe ist etwas mir Wertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf. Sie legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllen bereit sein muß. Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgendeine Art verdienen. (...) Aber wenn er mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer ihn zu lieben. Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wird von all den Meinen als Bevorzugung geschätzt; es ist ein Unrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleichstelle.“

Friedrich Nietzsche zeigt in „Also sprach Zarathustra“ eine ebenso kritische Haltung zu dem Konzept der Nächstenliebe, wie Siegmund Freud in „Das Unbehagen in der Kultur“. Beide haben – finde ich – nicht ganz unrecht. Aber auch nicht ganz recht. Denn das Gebot der Fernstenliebe muss nicht selbstständig neben dem der Nächstenliebe stehen. Inwiefern beide Gebote identisch sind, hängt davon ab, wie eng der Kreis der Nächsten zu ziehen ist. Zu den Nächsten müsste zumindest aus christlicher/jüdischer Sicht aber genauso ein Feind, auch jeder Fremde, jeder Fernste gehören. In diesem Sinne sind Fernsten-Liebe und Nächstenliebe gleichzusetzen. Kompliziert erscheint mir hingegen das von Siegmund Freud betrachtete Verhältnis von Nächstenliebe und Gerechtigkeit: Wenn ich nicht zwischen verschiedenen Nähestufen differenziere, ist das nächstenliebende Verhalten ungerecht? Sämtliche Menschen gleich zu behandeln, heißt doch ebenfalls Freundschaft und Liebe nicht offenzulegen. Dennoch lässt sich die Funktion einer Forderung nach absoluter Gleichheit erklären. Denn Nächstenliebe drückt möglicherweise aus, dass potentiell viele zu „den Meinen“ werden können. Im Sinne eines „Liebe den Nächsten, denn er ist wie du“, dient der Gedanke der Zerstörung eines künstlichen Feindbildes. Aus der Forderung nach einer gleichen Behandlung wird so eine Erinnerung an die Gleichheit der Menschen.

Das grundlegende, ewige Problem scheint aber die Trennung von der Eigenliebe, die praktische Durchsetzbarkeit des Gebots zu sein: „Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug: nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen und euch mit seinem Irrtum vergolden. Ihr ladet euch einen Zeugen ein, wenn ihr von euch gut reden wollt; und wenn ihr ihn verführt habt, gut von euch zu denken, denkt ihr selber gut von euch.“ Wenn Egoismus die Grundlage menschlichen Handelns ist, kann ein Gebot etwas an dieser Geisteshaltung ändern? Und wenn das Verhalten sich ändert, genügt dies? Wahrer Humanismus empfindet auch, heißt mitfreuen, mitleiden. Ist es ein Paradoxon durch äußere Normen Einfluss auf die Empfindungen ausüben zu wollen? Leicht unterschätzt man aber den Einfluss des eigenen Verhaltens auf die eigene Lage. Wer lächelt, wird vielleicht in der Folge auch fröhlich, wer aber nie lächelt, hat es nie versucht. Ein solches Konzept der positiven Selbstüberzeugung ist ein geschickter Zug. Nächstenliebe kann doch dann als ständige Annäherung verstanden werden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen