Mittwoch, 2. September 2009

närrischer perspektivwechsel

Sehen Sie, erst habe ich auf den Stein hier dreihundertfünfundsechzigmal hintereinander zu spucken. Haben Sie das noch nicht probiert? Tun Sie es, es gewährt eine ganz eigne Unterhaltung. Dann – sehen Sie diese Handvoll Sand? Er nimmt Sand auf, wirft ihn in die Höhe und fängt ihn mit dem Rücken der Hand wieder auf. – Jetzt werf ich sie in die Höhe. Wollen wir wetten? Wieviel Körnchen hab ich jetzt auf dem Handrücken? Grad oder ungrad? – Wie? Sie wollen nicht wetten? Sind Sie ein Heide? Glauben Sie an Gott? Ich wette gewöhnlich mit mir selbst und kann es tagelang so treiben. Wenn Sie einen Menschen aufzutreiben wissen, der Lust hätte, manchmal mit mir zu wetten, so werden Sie mich sehr verbinden. Dann – habe ich nachzudenken, wie es wohl angehn mag, daß ich mir auf den Kopf sehe. O, wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Das ist eins von meinen Idealen. Mir wäre geholfen.

Wär das nicht hübsch mal so ein Narr sein. Einmal ein Perspektivwechsel wie ihn sich Leonce aus Büchners „Lustspiel“ Leonce und Lena  wünscht: Mit Vogelperspektive den Überblick bekommen: Wie ein Fremder und zugleich sich selbst Fremdbild und Selbstbild vereinen. Das spiegelt unzweifelhaft die Freiheit eines Narren, die spielerische Weisheit, welche ironisierend und hinterfragend in völliger Unabhängigkeit keinen Stein auf dem Anderen lässt. Was für viele über Kritik erhaben ist, wird angreifbar, was Ernst war, wird Spaß. Der Künstler oder Erfinder Julius von Bismarck hat den Wunsch Leonces in die Tat umgesetzt: Der Topshot-Helmet von 2007 filmt die tragende Person von oben und sendet das Bild zu einem Monitor vor den Augen, so dass nicht mehr das Auge selbst Maßstab ist, sondern die luftige Außensicht.




Der Apparat engt die Perspektive zugleich ein, man sieht sich schließlich nur noch von oben. Die Grenzen vom weisen Narren zum vernarrten Art Schildbürger sind also vielleicht fließend. Büchner jedenfalls vergönnt es Leonce nicht, ein Überschreiter zu sein: Leonce und Lena kommt der Überblick abhanden, die Beiden fügen sich schicksalhaft in ihre Verbindung. Wollten sie ursprünglich vor einer arrangierten Heirat mit einem fremden Prinzen/Prinzessin fliehen, lernen sie sich auf der Flucht als Fremde kennen. Das aber läuft doch dem Narren-Gedanken entgegen, nicht durchschaut, nicht gewollt, aber trotzdem eingefangen, verliebt und verlobt. Und gut – vielleicht ist Leonce trotzdem auf diese Art - nicht als Narr aber wie vernarrt oder genarrt - geholfen.

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