Donnerstag, 27. August 2009

musikalischer einheitsbrei





Wenn klassische Musik der Unterhaltung im - zugegebenermaßen recht großen - Stile des Musikantenstadl dient, wird es schön schmelzig. Die ständige Betonung des Rhythmus, die ewigen Nachschläge, Legato und zu viel Vibrato gleichen Stile an. Dann klingt Mozart schnell wie Strauß und Verdi wie ein Schlager. Man könnte auch sagen alles wird zu eindeutig Rieu und Lotti, was für die Interpreten eine klare Zielgruppe und einen hohen Wiedererkennungswert mit sich bringt. Ist der Unterschied zu dem unteren Video - das mechanisch sich wiederholende des Stils betreffend - tatsächlich noch so groß? Aber der Schmelz, wo bleibt der Schmelz?

emil schumacher und die spiritualität

Dem in Hagen geborenen Künstler Emil Schumacher wird mit dem Emil Schumacher Museum in Hagen ein sehr moderner Ausstellungsraum gewidmet. Seine informel Malerei als emotional spontane Gegenstandslosigkeit ist dort in wechselnden Ausstellung zu sehen. Als abstrakt und expressiv könnte man auch die klar strukturierten Glasfassaden des Gebäudes beschreiben, das auch für Feiern genutzt werden kann.


Das Museum feiert zunächst am 28. und 29.08.2009 seine Eröffnung, zu der der Ministerpräsident des Landes NRW, Jürgen Rüttgers, geladen ist. Neben den Segen der Politik soll auch eine weniger weltliche Anerkennung treten. Denn das Kunstquartier wird mit einer ökumenischen Feier eingeweiht, damit das „Kunstquartier auch eine spirituelle Dimension bekommt“, so der Direktor des Osthaus Museums Dr. Tayfun Belgin. Das allerdings scheint doch eine ungewöhnliche Kombination zu sein: Zum einen erinnert der Begriff „spirituell“ an Weltanschauung und nicht an Religion. Zum zweiten ist die Frage, wer das Spirituelle und die Kunst überhaupt verbunden sehen möchte. Denn das Erzeugnis spiritueller Kunst ist pathetisch-idealistisch-verklärend mit engen Wirkungsvorstellungen: „Die bildende Kunst hat einen Auftrag! Gerade in der heutigen Zeit sollte sie vermehrt mit klaren Botschaften den suchenden Menschen Wege zeigen. Möglichkeiten, sich selbst zu finden, um Horizonte zu öffnen und den Betrachter zum Handeln zu «inspirie­ren». (...) Dies ist der Punkt, an dem die spirituell inspirierte Kunst ansetzt: Menschen zum eigenen Nachdenken zu bewegen. Sie soll den Betrachter zum Innehalten führen, ihm wieder den Zugang zu sich selbst geben. Damit er den Dialog mit der Schöpfung findet und mit dem eigenen, göttlichen EGO in Kontakt kommt. Spirituelle Kunst kann mögliche Wege zeigen oder den Einstieg in eine lange verborgene Welt wieder zugänglich machen. (...) Was von der Zivilisation letzten Endes übrig bleibt, ist ihre Kunst. Sie ist Zeugnis, wie wir Menschen gelebt und gewirkt haben, Zeugnis unserer Ethik und Moral.“ Also Engel, Heilbilder, Astro-Art, Energiebilder, Heilige Geometrie, Kosmische Energieformen, Zen Art. 
Diese Dimension wollte Dr. Tayfun Belgin dem Emil Schumacher Museum gewiss nicht einverleiben. Emil Schumacher, der Künstler mit den Hammerbildern und den irdischen Strukturen. Mit einem Hammer bearbeitete er die Leinwand, um graphisch großen Linien durchbrechende und ergänzende Texturen zu schaffen. Mit Kratzen, Schaben, Schneiden, Spachteln bricht er große Flächen auf. Er betrachtete den Prozess des Malens als Angriff: „Die äußerste Form Widerstand zu brechen, ist die Zerstörung: ein primitiver Gestus der Verzweiflung und der Lust. Die Antwort heißt nicht: (...) wiederherstellen, sondern: den Zerstörungsakt dem Bilde einverleiben.“ Der Prozess des Malens ist dann Teil des Expressiven, aber es ist an anderes Verborgenes, was dann zum Vorschein kommt. Eben keine spirituelle Kunst, sondern informel Kunst. Deswegen gefällt das Konzept des Museums, mit dem Atelier des Künstlers die Ausstellung zu beginnen und dort filmisch dessen Arbeitsweise nahezubringen. Ohne Spiritualität in der Kunst verspricht also das Emil Schumacher Museum zu gefallen.

Montag, 24. August 2009

frohgefühl in den handgelenken

Erstaunlich ist doch diese Neigung, die eigenen Gefühle und Eindrücke für allgemeingültig zu halten. Wer kennt kein Frohgefühl in den Handgelenken, das die Künstlerin Saskia Niehaus in einem Interview des einfallsreich.tv so eindrücklich beschreibt. Deren Arbeitsweise dürfte die meisten Menschen generell in neue Gefühlswelten führen: Bewusste Abläufe scheinen selten zu sein. Stattdessen entstehe ein Wesen. Der Körper oder die Hand forme ein Wesen, es wolle raus. Man spüre, ob ein Werk vollendet sei. Warum das eine als Bild, das andere dreidimensional zu gestalten ist, da müsse man das Werk fragen. Dieses Verlassen auf intuitive Empfindungen, die Kommunikation zwischen Werk und Künstler – ob mit Ich, Über-ich oder Es oder Selbst oder Ähnliches sei dahingestellt – hat etwas unglaublich Faszinierendes. Als ob die gefühllose Gehirnmasse kribbeln könnte.


Als eine Art synästhetischer Ansatz könnte man dies bezeichnen, als Vereinigung mehrerer Sinne im weiten Sinne oder die Substitution eines Sinnes durch einen anderen. Nur das als Sinn dann auch ein sechster Sinn, die Intuition das unbestimmte Gefühl bezeichnet werden müsste. Irgendwie scheinen Sehen, Tasten und Gefühle ein Eigenleben zu führen und sich gegenseitig zu ersetzen. Wie bei antroposophisch geprägter Meditation, wenn Farben einzelnen Kraftzonen zugeordnet werden; sich einen grüner Hals, ein violettes Gehirn und einen roten Bauch vorzustellen soll danach entspannend sein. Mag es also so sein, dass ungewöhnliche Vermischung von Altbekannten Nie-Dagewesenes entstehen lässt, das Andere ebenfalls zu Neuem inspirieren kann. Daher: Viele Menschen würden von Gefühlen im Bauch reden, aber natürlich sei jedem ein Frohgefühl in den Handgelenken zugestanden.

Donnerstag, 20. August 2009

wildern auf fremdem terrain

Was passiert, wenn ein Musikinstrument die Stimme eines anderen spielt? Jedes Instrument hat seinen unverwechselbaren Charakter, dessen wortreichste und phantasievollste Beschreibung Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus verfasst haben dürfte: „Da lehnte in mehreren Exemplaren, das Violone, die Riesengeige, das schwer bewegliche Kontrabaß, majestätischer Rezitative fähig, dessen Pizzicato klangvoller ist als der gestimmte Paukenschlag, und dem man den verschleierten Zauber seiner Flageolett-Töne nicht zutrauen sollte. 
Und ebenfalls wiederholt war sein Gegenstück unter dem Holz-Blasinstrumenten vorhanden, das Kontrafagott, (...) gebaut in den doppelten Dimensionen seines kleineren Bruders, des scherzosen Fagotts, das ich so nenne, weil es ein Baß-Instrument ist ohne rechte Baßgewalt, eigentümlich schwächlich von Klang, meckernd, karikaturistisch. (...) 
dazu die Querflöte (...) nebst ihrer schrillen Verwandten, der Piccolo-Flöte, die im Orchester-Tutti durchdringend die Höhe zu halten und im Irrlichter-Reigen, im Feuerzauber zu tanzen weiß. Und nun erst der schimmernde Chor der Blechinstrumente von der schmucken Trompete, der man das helle Signal, das kecke Lied, die schmelzende Kantilene mit Augen ansieht, über den Liebling der Romantik, das verwickelte Ventilhorn, (...) bis zu der gründenden Schwere der großen Baßtuba.“

Nun fügt die Kunst der Orchestrierung diese einzelnen Charaktere zu einem Gesamtbild zusammen. Ähnliches gilt wie nach Kandinskys Prinzip der inneren Notwendigkeit in der Kunst für die Musik: Der bewusste Einsatz von Instrumenten kann Wesenszüge der Musik verstärken, aber auch kontrastieren - oder auch personifizieren bei Programmusik. Tauscht ein Instrument mit einem anderen, ändert sich der Zusammenhang. Nicht vorzustellen wäre es, wenn bei Peter und der Wolf von Sergej Prokofjew die Querflöte den Wolf verkörpern, oder die Oboe die Jäger darstellen würde. Jäger wecken offensichtlich andere Assoziationen als das leicht gequetscht Quakende der Oboe, das als typisch für eine Ente gelten kann. Derartige Musik-Instrument-Beziehungen sind hingegen besonders bei Programmusik besonders krass, dessen naturalistische Nachahmungsambitionen zum Klang in besonderem Verhältnis steht, während für sich selbst stehende Musikstücke Neuinterpretationen durchaus offener sein können.

Für Musikvirtuosen ist es ein beliebtes Spiel sich Solopartien anderer Instrumente anzueignen. Wenn Alison Balsom mit ihrem Album Caprice die Trompete in neue Gefilde führt, oder Sabine Meyer in Una Voce...Per Clarone Opernwerke an Klarinettenklänge adaptiert, können herausragende Fähigkeiten des Instrumentalisten hervorzuheben. Dann geht es auch um die Wandlungsfähigkeit des Instruments, das durch Virtuosentum andere Klangfarben erreicht. Ob Neuinterpretation eines Musikstückes oder Veränderlichkeit eines Instruments, zumindest bedarf es also besonderer Fähigkeiten, das charaktervoll Eingesetzte auszutauschen.

wimmelbilder

James Rizzi ist bekannt wie ein bunter Hund mit seinen farbenfrohen, vollen 3d-Bildern. Zwar fehlt der prägende Pinselstrich und kleine Variationen der Farben, so dass die einzelnen Bildteile starr sind. Dennoch vermittelt die bunte Vielfalt des antropomorph Dargestellten pulsierende Lebensfreude. Derart naive Kunst – in diesem Zusammenhang nicht als Arbeiten von Autodidakten verstanden – bedient sich bewusst modern kindlicher Ausdrucksformen.

Als Wimmelbilder wurden die Arbeiten von James Rizzi häufig bezeichnet. Was haben sie also mit explizit für Kinder erdachten Wimmelbücher gemeinsam? Wimmelbücher hat vor allem Ali Mitgutsch seit 1970 bekannt gemacht. Hingegen verwehrt sich Ali Mitgutsch gegen den Begriff „Wimmelbücher“, da er diesen mit „Abwimmeln von Kindern“ verbindet und daher „sich selbst erzählende Bilderbücher“ vorzieht. Fast ohne Worte werden in diesen Büchern tatsächlich eine Fülle von Einzelheiten und damit Beziehungen und ganze Geschichten erfassbar. Der Blick darf frei wander. Durch Typisierung, Darstellung von der Situation an sich können Wimmelbücher Kinder optisch Szenen aus der großen Welt nahe bringen. Vielleicht ist es umgekehrt Rizzis Anliegen Erwachsenen typisiert Situationen kindlich nahe zu bringen. Alltägliche Szenen, vor allem aus New York neu fröhlich zu entdecken. Oder auch bekannte Kunstwerke wie Mona Lisa oder der Schrei neu zu entdecken. Dieser starke, aber veränderte Alltagsbezug kann auch erklären, warum die Vermarktung Rizzis, der Enzyklopedien des Brockhaus-Verlags, Briefmarken, CDs, Rosenthal-Porzellan gestaltet hat, ein derartiger Erfolg ist.

Das Element der Entfremdung durch Stilisierung hat ebenfalls Verwandtschaft mit Comics. Verschiedene kleine Bilder in Sequenz – jedoch auf einem Bild – erzählen Geschichten. Dazu verstärken Rizzis schwarzen Umrandungen und die eindeutig zugeordneten Farben den Comic-Eindruck. Außerdem muss ein „comic strip“, ein komischer Streifen, nicht immer komisch sein, aber dennoch sind Comics häufig mit (seichtem) Scherz verbunden, man denke nur an Donald Duck, Micky Maus, Asterix und Obelix.

Die Verarbeitung von Alltagszenen und häufig auch stilistische Comic-Ähnlichkeiten sind genereller Merkmale von Pop Art. James Rizzi aber hat durch durch 3d-Wimmelbilder eine Form gefunden, die diese Merkmale kindlich bunt neu in sich trägt.

Montag, 17. August 2009

contemporary artists: erleuchtete räumlichkeiten




Die Skulpturen von Jürgen Albrechts beeindrucken durch friedliche Zweiseitigkeit: von außen sind sie eckig, quadratisch. Aber Innen kleine, gefaltete und mit Fenstern versehene, puppenstubenartige Räume. Zauberhaft leer, als hätte jemand eine Wohnung ausgeräumt und nun jedem Betrachter überlassen, sie neu zu füllen. Wegen der Leere sind es Ruheräume. Sich langsam aber ständig änderndes Tageslicht beeinflusst die Schatten in den Skulpturen, so dass auch die Möblierung durch den Betrachter wechseln kann. Gerade diese Lichtspiele schaffen eine neue Perspektive auf Tiefe, Höhe und Verhältnisse der Wände zueinander. Innen also eine neue, ruhige Welt.

schimmlige sicherheiten

Dass Parmesan in der norditalienischen Region Emilia Romagna als Kreditsicherungsmittel dient, bewegte in den letzten Tagen Nachrichtensendungen und Magazine. Focus, ARD und yahoo beispielsweise verkauften fast wortgleich die Kredite an Käsehersteller vergebende Bank Credito Emiliano als Sensation. Aber so verblüffend ist der Vorgang historisch und juristisch nicht: „Parmesan-Käse wird seit dem Mittelalter für Finanzgeschäfte verwendet, sagt Leo Bertozzi, Chef des italienischen Parmesan-Herstellerverbandes. Die Bank habe zwar erwogen, Prosciutto-Schinken und Olivenöl als Sicherheiten zu verwenden, sagt William Bizzarri, der für den Käse zuständige Bankmanager. Doch diese Produkte seien schwerer zu lagern und markieren. Es ist auch einfacher, sie zu stehlen oder auszutauschen, so Bizzarri.“ Und auch in Deutschland wäre es theoretisch denkbar, Käse als Sicherungsmittel zu nutzen. Denn Lebensmittel sind Sachen und unterliegen als solche selbstverständlich dem für Sachen geltenden Recht. Es spricht also nichts dagegen, Parmesan zur Sicherheit zu übereignen oder zu verpfänden.

Dennoch finden kulinarisch meist zurückhaltend lebende Deutsche wahrscheinlich erstaunlich, dass simple Milchprodukte dem Wert eines Kredites entsprechen sollen. Der geschützte Parmigiano-Reggiano aus der Region ist aber nicht irgendein Käse: Die Bank Credito Emiliano lagert über 440.000 Käseräder mit einem Wert von 132 Millionen Euro. Jedes der 40 Kilogramm schweren Käseräder ist rund 300 Euro wert und kann im Fall eines Diebstahls dank eines Brandzeichens zurückverfolgt werden.

Verwunderlich ist zugegebenermaßen, warum sich ein Banker um Käse kümmern soll. Denn übereignet ein Käsehersteller der Bank den Käse zur Sicherheit, bliebe dieser weiterhin im Besitz des Käses und er könnte sich weiterhin ungestört des Käses annehmen. Bei einer Verpfändung dagegen müsste der Besitz am Käse an die Bank wechseln. Und für eine auf andere Geschäfte spezialisierte Bank, so meint man, ist es zu teuer den Reifeprozess zu überwachen. Aber in Italien scheint dies kein Problem zu sein: Credito Emiliane vertraut den Reifeprozess der zu dem Zweck eingerichtete Tochtergesellschaft Magazzini Generali delle Tagliate (M.G.T.) an, die die Räder mehrfach in der Woche dreht. Und wenn sämtliche Käsehersteller Kredite bei dieser Bank in Anspruch nehmen und auf diese Art die Überwachung des Reifeprozesses in der Region fast ausschließlich M.G.T. zuständig ist, wäre die Bank der wirkliche Käse-Spezialist. Diese Bündelung ist dann auch günstig für den Käsehersteller, dessen Kreditzinsen unter den eigenen Herstellungskosten liegt. Oder die Bank müsste andernfalls die Käsehersteller beaufsichtigen, was noch kostspieliger sein kann, als sich direkt des Käses anzunehmen. Jedenfalls scheint es für die Beteiligten ein funktionierendes Wirtschaftsmodell zu sein.

Das lässt sich also alles wunderbar erklären: Parmesan ist Millionen wert und die Bank arbeitet effizienter als ein Käsehersteller. Schimmlige Sicherheiten sind gar nicht so undenkbar wie es scheint und löchrig ist nur der Nachrichtensommer.

Samstag, 15. August 2009

alltäglich schönes: tattoo verhübschte wände

Immer dieses ewige Riesenbild über dem Sofa, der- zugegebenermaßen praktische - Spiegel in der Eingangshalle, wie früher der obligatorische Engel über dem Bett. Es gibt hier, hier, hier oder hier charmante Alternativen. Gegenüber dem mühsamen Schablonieren haben solch vorgefertigte Wandtattoos natürlich den Vorteil der Sauberkeit und Exaktheit.

Nur der Name ist etwas störend: Tattoos, das sind doch diese künstlichen Körperverunzierungen, die im schlimmsten Falle mit der Haut wachsen. Schön wäre es, wenn man die hübschen Dinger einfach umbenennen in könnte. In Wandsticker für ehemalige Sammler von glitzernden Stickern, oder Wandaufkleber für Bastler oder folierte Wandverzierungen für Gezierte. Das wäre doch mal was Anderes.

Freitag, 14. August 2009

unglaubliche stapeleien

Gute Geschichtenerzähler gibt es viele. Allerdings geht manches doch entschieden zu weit. Nicht bei dem harmlos offensichtlichen Fabulierer Ingol Haberstruber – von dem schon die Rede war –, aber bei Betrügern wie Ponzi oder Bernard Madoff. Sie alle aber hätten ihren Meister in einem Mann gefunden, der eine ganze Herkunft, eine neue Kultur und ein eigenes Leben erfunden hat: Eine blonder, hellhäutiger Mann, der von etwa 1702 bis 1706 in London behauptete, von der asiatischen Insel Formosa zu zu stammen. Deren Kultur hielt er schriftlich in einem Buch "An Historical and Geographical Description of Formosa" fest. Es ist ein Hochstapler, der mittels seiner Erzählungen derart zu Ruhm und Beliebtheit gelangte, dass er seine „Muttersprache“ in Oxford an der Universität unterrichten durfte. Noch seine Memoiren ließ er posthum nicht unter seinem tatsächlichen Namen veröffentlichen: *** Commonly known under the name George Psalmanazar“ nennt sich der Autor.

Geschichte Teil 1
Der Herr Psalmanazar erzählte der Londoner Gesellschaft von seiner Heimat und lebte seine Erzählungen: Formosa ist die beste und schönste Insel Asiens mit der Hauptstadt Xternetsa. Die Männer dürfen mehrere Frauen, zugleich heiraten. Kann er eine nicht mehr ernähren, wird er jedoch geköpft. Deswegen muss vor jeder Hochzeit sorgfältig geprüft werden, ob er die Braut unterhalten kann. Die Anzahl der Frauen kann sich wieder verringern, wenn der Ehemann beschließt, eine der Auserwählten Gattinen zu verspeisen.

Überhaupt geht es nicht immer friedlich zu: Jedes Jahr opfert das Volk den Göttern die Herzen von 18.000 Jungen. Verurteilte Mörder werden kopfüber gehängt und mit Pfeilen beschossen, die die Körper anschließend von den Priestern verspeist, die im Übrigen Sonne und Mond vergötterten. Zu Tieren haben die Bewohner dagegen ein enges Verhältnis: Schlangen tragen sie an ihrem Körper mit sich herum, Kröten als Haustiere liefern nützliches Gift.

Die Mahlzeiten sind deliziös: Rohes Reh-, Hühner und Schlangenfleisch gehört zu den bevorzugten Gerichten. Dazu aus Wurzeln hergestelltes Brot. Es empfiehlt sich daneben ein Gläschen Puntet, ein Liquör, der von Bäumen fließt. Der Baum nennt sich Charpok und ähnelt einem Walnussbaum, mit dem Unterschied, dass die Früchte himmelwärts abstehen. Diese Namen entstammen der ureigenen Sprache, die dem Volk von demselben Propheten Psalmanaazaar!, der auch das formosische Recht prägte, gegeben wurde. Die Beschreibungen erinnern doch zu stark an in den Mund fliegenden gebratenen Tauben und beschwören ein Schlaraffenland, wenn sie nicht gerade zur Dystopie schwanken.

Geschichte Teil 2
Und natürlich flog es schließlich auf: „vilest and most odious impostures“, „scandalous piece of forgery“, „long train of the most unaccountable follies and vanities“ sind angemessene Namen für derartige Gaukeleien. Sie stammen aus keiner anderen Feder als demselben Herrn Psalmanazar, den man nunmehr wohl Herrn *** nennen muss. Nach seiner Entlarvung packte ihn wegen seiner religösen Erziehung die Reue. Er schrieb seine Memoiren, in denen er sein wahres Leben enthüllen wollte. Aber was soll man von jemandem halten, der außerhalb Europas weder geboren, aufgewachsen, unterrichtet wurde, sondern zunächst in den südlichen Regionen Europas gelebt und es ihn aus bestimmten Gründen mit 16 Jahren eher in nördliche Gefilde verschlagen hat. Sehr präzise – da freut man sich doch über die Ergänzung, dass nördlich nicht nördlicher als der deutsche Rhein oder England ist. Er wurde Hauslehrer mit unterschiedlichen Anstellungen. So wechselte er einst zu einem „man of distinction“, doch widmet sich weniger den Kinder, als der Ehefrau. Beim Militär entdeckte er, dass einem Mann aus Japan ganz anders zugehört wird, als einem mit unbestimmter Herkunft...Seitenlange Ausführungen über seine Geltungssucht, seine besondere Intelligenz, über Reue über Religion. Warum die vielen schwammigen Angaben fragt man sich doch, warum sich ständig entschuldigen. Ob das nicht wieder eine gute Geschichte des Autobiographen ist. Vielleicht aber auch nicht, denn kein geringerer als Samuel Johnson war ein enger Freund von Herrn*** und hat ihn für eine ehrliche Haut gehalten.

So ist die Geschichte Teil 1 völlig unglaubwürdig und Geschichte Teil 2 zweifelhaft. Der Roman „Die Lichter des George Psalmanazar“ von Daniela Dröscher scheint dennoch Gutes in *** zu suchen. Dies ist bestimmt (ungelesen – keine Leseempfehlung) eine ebenso gute Geschichte wie die des Herrn selbst und kommt hoffentlich mit weniger Wiederholungen aus.

lang lang und barenboim spielen beethoven

Lang Lang und Barenboim sind zwei einst als Wunderkinder gefeierte Pianisten. Während ersterer mit Fernsehauftritten und ausverkauften Konzerten auf den größten Bühnen weltweit als Star Furore macht, gehört letzterer – wenn auch wahrscheinlich nicht gleich populär einem breitem Publikum bekannt – schon lange zur Weltspitze. Beide berühmt, beide Pianisten auf höchstem Niveau, beide Ausnahmeerscheinungen der Musikwelt. Unterscheidet sich nun Lang Langs Spiel von Barenboims? In der Tat, hört man das Beethoven Klavier-Konzert Nr. 1 beider Interpreten (Lang Lang beginnt in der 3., Barenboim – nebenbei bemerkt ohne zusätzlichen Dirigent in der 3.40 Minute), sind bei aller Brillanz unterschiedliche Welten zu entdecken.






Der Beethoven Lang Langs ist ein schwelgender, romantischer, der von Barenboim hingegen klar und klassisch strukturiert. Das Tempo ist bei Barenboim kontrolliert, die einzelnen Töne sind exakt kurz und fast trocken angespielt, die schnellen Läufe perlen nur so. Ohne Spielereien und kleinen Phrasierungen wirkt das Stück mit stolzer Zurückhaltung für sich. "Jedes Stück, jeder Satz hat sein eigenes Bild. Beethoven braucht keine Interpretation in diesem Sinn. Man muß versuchen, in diese Welt zu kommen." so versteht Barenboim die Klangwelt Beethovens. Dagegen spielt Lang Lang kleine Abschnitte des Stücks deutlicher im Zusammenhang, die Töne sind breiter, Lautstärke und Charakter variieren effektvoll. Dies muss nicht besser und überlegen sein, schließlich füllt jeder Interpret die einzeln notierten Töne mit anderem Inhalt. Gerade der zwischen den Zeiten stehende Beethoven kann schließlich nicht nur klassisch, wie bei Barenboim, sondern auch romantisch interpretiert werden. Vielleicht kann man den Unterschied auch als junge und gesetzte Interpretation beschreiben. Vielleicht kann Lang Lang noch etwas von Barenboim lernen, so wie es in dem unten zu sehenden You-Tube Video erscheint. Und vielleicht beschränkt sich die Verschiedenheit der Interpreten auf Beethoven, schließlich haben Barenboim und Lang Lang gemeinsam Klaviersonaten von Mendelssohn aufgenommen.


Montag, 10. August 2009

aufgefülltes halbwissen über fast alles

„Diane Demorney hatte vielleicht gar nicht so unrecht. Zwar wirkten ihre kleinen Wissensfetzen auf ihn wie eine zu knapp bemessene Patchworkdecke, doch was sie wußte, schien sie aus dem Effeff zu beherrschen. (...) anstatt mit herkulischem Kraftaufwand Geschichte zu büffeln, nimmt sie sich einen Happen vor, den sie in noch kleinere Häppchen zerlegt.“ Es gibt viele Diane Demorneys wie die aus Martha Grimes Kriminalroman „Jury besucht alte Damen“. Einzelne Bröckchen wirft die Dame ein, um täuschend echt fundiertes Fachwissen zu simulieren, während Zuhörer mit grundlegendem Allgemeinwissen nur staunen. Imponierend trotz Faulheit versucht Diane zu sein. Auch wenn man die Frage der Durchschaubarkeit beiseite lässt, kommt man zunächst nicht umhin, Halbwissen als fragwürdig zu bezeichnen: Das Gedächtnis kann umso mehr Informationen aufnehmen, je mehr davon bereits gespeichert sind. Es wird also ebenfalls faul.

Aber wer kennt keine Wissensinseln, wer spielt keine Rollen. Es muss schließlich nicht nur auf Präsentation bedachte Diane Demorneys sondern auch kreative Ingol Habertrubersgeben: Die Figur aus Peter Bichsels Erzählung „Eine Erklärung an den Lehrling Prey“ erzählt gelungene Geschichten phantasievoll mit der Freiheit eines Dilettanten. Sein Lehrling soll „den Augenblick des Erzählens jedem Wissen und jeder Brauchbarkeit vorzuziehen“. Das Auffüllen von Halbwissen, das Fabulieren ist dann als Beginn von Gedankenreisen dem Wissen als Schlusspunkt von Fragen vorzuziehen. So gesehen fabriziert Halbwissen keine Faulheit.

Und genau genommen erfordern Wissensinseln – sofern man sie geschickt an den Mann zu bringen sucht – recht elaborierte Strategien. Daher ein paar Tipps aus der Diane Demorneyschen Trickkiste: „Warum aufs Trinity College gehen und das Book of Kells studieren, über das jeder etwas wußte – wenn man im British Museum vorbeigehen konnte und eine Seite vom Book of Dimma lese konnte, von dem keine Menschenseele je gehört zu haben schien, abgesehen von Experten. Zählte ihr Gegenüber zufällig zu diesen Experten, lächelte Diane einfach nur und rauchte schweigend vor sich hin.“ „Verbitten Sie sich strikt, zum Thema Rosen oder allem, was mit Rosen zu tun hat, konsultiert zu werden. Falls Rosen zur Sprache kommen sollten (...) behaupten Sie einfach, Sie seien seit jeher nach dem Grundsatz verfahren: Je weniger man drüber weiß, desto besser. Das hört sich so bescheuert an, dass man daraus sofort schließen wird, Sie müssten in Bezug auf Rosen ein wahrer Quell der Weisheit sein.“

Freitag, 7. August 2009

contemporary artists: irritierende schönheiten




Diese Bilder von Tanja Selzer wirken zunächst wie farbenfrohe Landschaften. Aber sind die Menschen dann doch bloße Skelette, die Wale gestrandet, der Himmel eine Rauchwolke. Dann werden auch die intensiven Farben bedrohlich. Das Öl auf Leinwand verläuft in senkrechten Linien, steht damit in Spannung zu der Betonung des Horizonts und lässt die Konturen ineinander verschwimmen. "Die Entstellung, die Ambivalenz des schönen Hässlichen und des hässlichen Schönen sind das Thema meiner Malerei." Eindeutig ist nur, dass "etwas nicht stimmt" auf diesen Bildern. Sie changieren zwischen hässlich oder schön, Landschaft oder Mensch, farbenfroh oder -intensiv.

Donnerstag, 6. August 2009

dirigieren oder mitspielen?

Nigel Kennedy verzichtete bei der Aufnahmen seiner CD mit Beethoven Violinkonzert D-dur op. 61 und Mozart Violinkonzert Nr. 4 D-dur KV 218 auf den Dirigenten. In einem Interview begründet er dies auf sehr drastische Art: „In meinen Augen sind die grotesken Winksignale des Dirigenten und die Gründe, weshalb jemand Dirigent werden möchte, verdächtig. Ich verstehe einfach nicht, warum jemand, der ein Instrument spielen kann, aufstehen und mit einem Taktstock durch die Luft wedeln möchte. Die positive Motivation, ohne Dirigent zu musizieren, ist die Kommunikation, die unter den Orchestermusikern und zwischen mir und dem Orchester stattfindet. Sie wird nicht unterbrochen von jemandem, der mit den Armen wedelt, wörtlich oder im übertragenen Sinne.“ Nun könnte man meinen, dass Nigel Kennedy mit seinen Jazz-Aufnahmen, seiner Kadenz im Mozart Violinkonzert auf der e-Geige sowieso als eine Art "Punk" der Szene heraussticht.

Tatsächlich verweigern sich ganze Orchester der Diktatur des Stockes: Das 1972 in New York gegründete Orpheus Chamber Orchestra ist für seine eigenwillige Einstudiermethode berüchtigt. Und dann geht es nicht mehr nur um unmittelbaren Hörkontakt der Musiker, denn als Organisationsprinzip haftet dem etwas basisdemokratisches an: Die Interpretation der Stücke schreibt kein Einzelner vor, sondern wird diskutiert und gemeinsam festgelegt. Zuzugeben ist allerdings, dass die politische Zuordnung nicht eindeutig ist, der Dirigent dürfte nicht nur Demokraten ein Dorn im Auge sein. Von 1922 bis 1932 musizierte das Moskauer Orchester Persimfans ebenfalls ohne Dirigent, allerdings um den Kollektivismus in der Musik durchzusetzen; das Ensemble wurde auch das „Kind der Revolution“ genannt.




Unabhängig von der politischen Orientierung, scheint es auch sozial einige Vorteile zu geben: Teamwork ist beliebt, Teamwork schafft Zusammenhalt, Identifikation mit dem Projekt usw. Der schweizerische Komponist Hans Wüthrich hatte dagegen wohl schlicht musikalische Gründe, als er zwei Stücke "für autonom kybernetisch sich selbst regulierendes Orchester ohne Dirigenten“ schrieb Netzwerk I (1982-1985) (...Wie in einem sehr grossen Schiff oder Fisch...) und Netz-Werk II (1984-1985) (Flexible Umrisse). Das Orchester als Netzwerk bewusst zur Kommunikation eingesetzt. Interessante Ideen, die Frage ist nur, ob nicht entweder die Probendauer deutlich ansteigt oder letztlich doch Einzelne den Ton angeben: der Konzertmeister, der Orchestergründer oder im Falle Nigel Kennedys offensichtlich der Solist.

Mittwoch, 5. August 2009

das prinzip der inneren notwendigkeit

Muss ein Quadrat rot, ein Dreieck gelb und ein Kreis blau sein?

Ein Umfrage im Jahre 1923 unter den Schülern und Professoren der Kunstschule Bauhaus befand in der Tat, dass die Grundfarben bestens harmonisch auf die genannte Art und Weise den bestimmten Grundformen zuzuordnen ist. Jedoch können die Schüler Wassily Kandinskys, der seit 1921 am Bauhaus unterrichtete, insofern kaum als unbefangen gelten: Kandinsky befasste sich bereits 1911 in seiner Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ mit dem Zusammenspiel von Form und Farbe.

Nun ist natürlich nicht wie in den nebenstehenden karikierenden Abbildungen zwingend ein Kreis blau sein usw. Natürlich ist entscheidend, dass die Wirkung eine andere sein soll, wenn ein Kreis gelb ist. „Dabei lässt sich leicht bemerken, daß manche Farbe durch manche Form in ihrem Werte unterstrichen wird und durch andere abgestumpft. Jedenfalls spitze Farben klingen in ihrer Eigenschaft stärker in spitzer Form (z.B. Gelb im Dreieck). Die zur Vertiefung geneigten werden in dieser Wirkung durch runde Formen erhöht (z.B. Blau im Kreis).“ Die gewollte Wirkung auf den Betrachter bestimmt also die Zusammenstellung von Form und Farbe, aber der Effekt von Form und Farbe verstärkt sich in der genannten Kombination. Dies nennt Kandinsky das Prinzip der inneren Notwendigkeit.

Bei Raimer Jochims Arbeitsnotizen "Farbe sehen" 1973-1994 klingt die Auseinandersetzung mit der Farb-Form-Beziehung schon etwas verfeinerter:"die passive, kontraktive Farbe muss größer gegeben werden als die aktive, expansive, damit sie gleichwertig erscheinen. (...) Je intensiver die Farbe, desto bewegter der Umriss." Die aktivere richtet sich auf, die unintensivere (dunklere, ungesättigtere, kühlere) liegt." Als bestimmendes Element sind also nicht nur Form/Gegenstand und Farbe genannt, sondern auch der Umriss selbst. Insoweit scheint mir das Grundprinzip der inneren Zugehörigkeit zumindest noch das Gleiche zu sein. Was ich nicht verstehe ist, warum Farben gleichwertig sein müssen. Ob Farben dominieren oder auch nicht gehört ebenso zur Bildkomposition selbst, ob sie anspricht hängt nun vom Zeitgeist und der Stärke der Ausführung ab. Insofern weist erfreulicherweise Kandinsky auf das Innere der Notwendigkeit hin: „Es gibt kein muß in der Kunst, die ewig frei ist. Vor dem muß flieht die Kunst, wie der Tag vor der Nacht.“

Montag, 3. August 2009

das „zirkuspferdchen-syndrom“

Wunderkinder mit ihren unfassbaren, unerlernten Talenten beeindruckend. Besonders erstaunlich ist es, wenn ein Junge, der – gerade mal sechs Jahre alt – die Arie der Königin der Nacht für Kolloratursopran aus Mozarts Zauberflöte in einer Fernsehshow singt. Für Max Emanuel Cencic begann mit dem Auftritt die Gesangskarriere: mit 10 Jahren sang er bei den Wiener Sängerknaben, mit 16 Jahren folgte die Solo-Karriere als Countertenor (Sopran). Doch nach Hunderten von Auftritten ein Jahr später brach er auf einer Tournee zusammen. Als Zirkuspferdchen-Syndrom soll er den Rummel um ungewöhnlich talentierte Kinder genannt haben. Und bei aller Bewunderung ist dies schon verständlich, denn ein wenig unnatürlich mag ein sechsjähriger Kolloratursopran schon gewirkt haben, ein wenig aufgeputzt und vorgeführt.




Überhaupt sind die mit Kopfstimme singenden Countertenöre kein Ausbund an Natürlichkeit, sie spielen mit dem Changieren zwischen Frauen- und Männerstimmen und der Diskrepanz zwischen Tonhöhe und äußerem Erscheinungsbild. Dennoch scheinen sie mit der historischen Aufführungspraxis eine „neuen Renaissance“ zu erleben: über Stars, von denen nur Philippe Jaroussky, Andreas Scholl, David Daniels beispielhaft genannt seien, wird geredet und geschrieben. Diese Aufmerksamkeit für Countertenöre ist jedoch wahrscheinlich harmlos gegen das Theater um Kastraten. Wie muss es erst barocken Stars unter den Kastraten wie Farinelli ergangen sein. Wegen des Schweigegebots für Frauen in der Kirche wurde die Entmannung von Jungen zunächst als Ausweg, dann als stimmliches Schönheitsideal entdeckt. Kastraten lebten auch von der Künstlichkeit, der Vorführung. Die Maniriertheit des Barock hat die Gesangsform nicht umsonst hervorgebracht. Infolgedessen boomte das Gewerbe: Rekruteure streiften durch Italien um Eltern ihre Söhne abzukaufen; es sollen im 18. Jahrhundert sogar bis 4000 Jungen pro Jahr kastriert worden sein. Der wohl letzte Kastrat, Alessandro Moreschi, starb erst 1922. Er ist auch der einzige, dessen Stimme durch Aufnahmen in den Jahren 1902 und 1904 der Nachwelt erhalten blieb. Allerdings wirkt der Gesang mit heutigem Ohr als ganz schönes Geleier; auch dann, wenn man berücksichtigt, dass in den Jahren seine Hochzeit schon vorbei und die der Aufnahmetechnik noch lange nicht erreicht war. Genausogut können die für das Leiern verantwortlichen portamenti (das Ziehen von einem Ton zum anderen) auf den damaligen Geschmack zurückzuführen sein.




Papst Pius X. 1904 strebte danach die Kirchenmusik wieder deutlich von der profanen abzugrenzen, mehr wie ein gregorianischer Choral sollten die liturgischen Sänger klingen. „On the same principle it follows that singers in church have a real liturgical office, and that therefore women, being incapable of exercising such office, cannot be admitted to form part of the choir. Whenever, then, it is desired to employ the acute voices of sopranos and contraltos, these parts must be taken by boys, according to the most ancient usage of the Church.“ Mit dem Verbot der Kastraten in der Kirche hat Papst Pius X. die Zeit der Maniriertheit zurückgedreht. Natürlich ist andererseits auch gerade das Artifizielle anziehend. Genausogut könnte man vieles als Übernatürlichkeit begreifen, nicht ohne Grund wurde Alessandro Moreschi schließlich als Engel von Rom bezeichnet. Aber trotz allem Talent und aller Bewunderung: Wunderkinder sind eben auch dressiert.